Tanz auf dem Vulkan

Erfindung und Untergang einer preußischen Provinz in der Kaiserzeit
 
Eröffnung: 21. 09.2024, 14 Uhr
Ausstellungsdauer: 21.09.2024 – 11.01.2025

Das Jahr 1878 markiert in der Geschichte Nordostdeutschlands einen gewichtigen Einschnitt: Die 1824 als Personalunion gebildete und seit 1829 in einer Realunion bestehende Provinz Preußen mit der Hauptstadt Königsberg wurde wieder in die beiden separaten Provinzen West- und Ostpreußen geteilt, wodurch Danzig neuerlich zum Rang einer Provinzhauptstadt aufzusteigen vermochte. Prononciert ließe sich sagen, dass Westpreußen von nun an überhaupt erst die Chance erhielt, sich – wenn auch nur noch für einen Zeitraum von gut 40 Jahren – zu der eigenständigen politischen, ökonomischen und soziokulturellen Einheit zu entwickeln, die heute im allgemeinen Diskurs das Verständnis von „Westpreußen“ bestimmt. In Bezug auf Westpreußen führt diese dezidiert „kurze“ geschichtliche Phase vom Aufbruch dann 1919/1920 sogar unmittelbar zum gänzlichen Untergang.

Karikatur aus der politisch-satirischen Zeitschrift „Kladderadatsch“ zum 1906 in Westpreußen einsetzenden Schulstreik, mit dem sich Schüler und Eltern gegen das Verbot der polnischen Sprache sogar im Religionsunterricht auflehnten.

 

Die Loslösung aus der übergreifenden Einheit „Preußen“ und die Wandlung zu einer eigenständigen Provinz wurden gleichermaßen als Emanzipation wie als Aufbruch empfunden und standen im engen Zusammenhang mit der Dynamik der Moderne, die im Kaiserreich einerseits durch technisch-wissenschaftliche Innovationen erzeugt wurde und in allen Lebensbereichen ein Anwachsen der Prosperität versprach. Andererseits speisten sich die Energien des Fortschritts aus gesellschaftlichen Prozessen, die von einer Erweiterung und Ausdehnung partizipativer Rechte begünstigt wurden, eine rasche Zunahme zivilgesellschaftlichen Engagements auslösten und schließlich in einer breiten Politisierung der Massen kulminierten.

Die geradezu stürmische Entwicklung dieser Provinz und die Entfaltung eines kohärenten politischen, sozioökonomischen und -kulturellen Gebildes lässt sich metaphorisch auch als Tanz auf einem Vulkan charakterisieren, war die Epoche doch von einer tiefgreifenden Doppelgesichtigkeit geprägt. Die rasche Prosperität der Provinz ging – zumal nach der 1871 endlich erreichten Reichseinheit – Hand in Hand mit einer nationalen, wenn nicht nationalistischen Grundhaltung einher. Diese bot den Nährboden für die Politisierung der Massen und verleitete insbesondere in Westpreußen dazu, das „Deutschtum“ einseitig zu betonen und derart einen fortschreitend konfliktlösen Ausschluss der polnischen und kaschubischen Minderheit zu betreiben.

Dieser thematische Zuschnitt der Ausstellung eröffnet vielfältige thematische Gesichtspunkte, die allesamt für die verständigungspolitische Dimension der Ausstellung von zentraler Bedeutung sind. Es soll nicht allein um die Darstellung der rasch voranschreitenden Prosperität der Provinz auf den mannigfaltigen ökonomischen und gesellschaftlichen Gebieten gehen. Vielmehr wird auch das sich bildende Kraftfeld zwischen aufkommenden Nationalismus und daraus resultierenden Konflikten mit Polen kritisch beleuchtet werden. Besonders in der Kaiserzeit lässt sich unter den genannten Voraussetzungen die Aktualisierung bzw. Entstehung sowie Verhärtung all jener Stereotypien beobachten, die – verschärft durch die Verwerfungen seit dem Ende des Ersten Weltkrieges – bis heute wirksam sind und deshalb dringend einer gemeinsamen Aufarbeitung und kritischen Distanzierung bedürfen.