„Wir löffeln Geschichten“

14. November 2019 – 19. Januar 2020

Wir löffeln GeschichtenDie öffentliche Wahrnehmung in Deutschland, Polen und anderen Ländern im östlichen Europa ist immer wieder stark von Erinnerungen an wichtige Ereignisse im Leben aller Nationen geprägt. Im Jahr 2018 wurde an das Ende des Ersten Weltkriegs erinnert, 2019 haben wir dem 80. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs gedacht. 2020 jährte sich zum 75. Mal dessen Ende. Hierdurch rücken zwangsläufig Geschehnisse in den Fokus der Auseinandersetzung, die davon untrennbar sind: Migrationen aller Art.

Als Folge des Zweiten Weltkriegs verloren Millionen von Menschen in den östlichen Gebieten ihre Heimat – sie wurden vertrieben oder begaben sich auf die Flucht Richtung Westen. Die größte Zahl der Heimatvertriebenen fand innerhalb von Westfalen und Lippe Zuflucht. Darunter waren weit über 43.000 vertriebene Ostdeutsche – überwiegend aus Schlesien – im Durchgangslager Warendorf im Landgestüt einquartiert, um schließlich auf die umliegenden Ortschaften oder in die Städte und Dörfer des Münsterlandes eingewiesen zu werden.

Angesichts der gegenwärtigen politischen Lage erhält die Beschäftigung mit den Themen Flucht, Vertreibung und Migration einen wichtigen Aktualitätscharakter und wirft in Bezug auf die Vergangenheit in unserer heutigen Generation zahlreiche Fragen auf: Wie haben die Menschen die Vertreibung erlebt und was gab ihnen die Möglichkeit, an einem anderen, sogar fremden Ort eine neue Heimat zu finden?

Aus dieser Fragestellung heraus ist das Ausstellungsprojekt WIR LÖFFELN GESCHICHTEN entstanden, das in Zusammenarbeit des Kulturreferates für Westpreußen, Posener Land und Mittelpolen mit der Designerin und Goldschmiedin Katja Bremkamp-Leenen und der Designerin Nicole Aufmkolk aus der Warendorfer Künstlergemeinschaft „Die Bunte Kuh“ realisiert wurde.

Unter dem Aspekt der Erinnerungskultur wurden vom 14. November 2019 bis 13. Januar 2020 im Westpreußischen Landesmuseum Löffel aus privatem Besitz präsentiert, die von BürgerInnen aus Warendorf und Umgebung zur Verfügung gestellt wurden. Professionell porträtiert wurden sie von dem Augsburger Fotografen Adrian Beck.

Mit jedem dieser Löffel ist eine besondere Geschichte verknüpft. Zusammengetragen wurden Erzählungen über Flucht und Vertreibung, Not und Gefangenschaft, über Umsiedlungen, das Zurückbesinnen an geliebte Menschen oder Gegebenheiten, aber auch Schilderungen über Freude und Dankbarkeit, Freundschaft und Zukunftswünsche.

Über viele Jahrhunderte am Gürtel immer bei sich getragen, ist der Löffel nach wie vor als verbindendes Element anzusehen, das Menschen trotz unterschiedlicher Herkunft zum Essen zusammenführt und miteinander vereint. Lange Zeit gehörten Löffel zu den wichtigsten persönlichen Besitztümern, die vielfach von Generation zu Generation weitergegeben wurden.
Die Exponate, die im Rahmen dieser Ausstellung gezeigt wurden, sind Bestandteil einer Sammlung von Löffeln aus verschiedenen Kulturen und Ländern. Einige davon sind nach unzähligen Jahren und einer langen Geschichte noch in Gebrauch, während andere explizit für die Ausstellung herausgesucht oder wiedergefunden wurden. In einem Punkt jedoch haben alle Löffel eine Gemeinsamkeit: sie sind – ebenso wie die Erinnerungen selbst – unersetzbar.


Beate Bisping

Beate Bisping

Der Tag unserer Mutter begann immer früh. Ihre ersten Schritte führten sie zuerst in die Küche. Wir waren eine große Familie: acht kleine Kinder und viel Arbeit, viel Kümmern, viele Pflichten, viele Zukunftsängste in den Nachkriegsjahren. Es ging langsam voran. Unsere Mutter war viel zu früh Witwe geworden. Nach dem Tod unseres Vaters war umgehend unsere Großmutter zu uns gereist und blieb für immer bei uns. So saßen jeden Tag 10 Personen am Tisch oder auch 11, denn zu der Zeit war es üblich, zur Unterstützung bei der Hausarbeit ein junges Mädchen als Haushaltshilfe aufzunehmen, mit vollem Familienanschluss.

Zu den frühesten Erinnerungen gehört das Bild meiner Mutter, wie sie mit einer weißen Schwesternschürze gekleidet, mit einem Holzlöffel hantierend vor unserem Feuerofen stand. Mein Holzlöffel ist der Letzte aus ihrer Küche. Direkt neben dem Holzofen stand ein neuer elektrischer Nachkriegsofen. „Zur Sicherheit“, sagte sie immer, „falls es nochmal Krieg gibt, damit wir kochen und heizen können, wenn Kohle und Strom ausfallen sollten. „So können wir notfalls unser Mobiliar verheizen“, sagte sie auch. Mir schauderte es bei der Vorstellung. Vor meinen Augen sah ich, wie sie das schöne Bücherregal zerlegte, um es Stück für Stück für uns zu verheizen. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass sie das auch tun würde. Unsere Mutter war eine Löwin und sie würde für uns kämpfen. So konnten wir beruhigt sein.
Es sollte ein Viertel Jahrhundert dauern, ehe sie dem Frieden traute und der Holzofen in den Keller wanderte. Dort blieb er bis zur Auflösung des Hauses nach dem Tod meiner Mutter. Geschichten von Flucht und Vertreibung, von Menschen im Krieg, von den entbehrungsreichen Nachkriegsjahren begleiteten uns durch die Kinderjahre. Manche ihrer Erzählungen kannten wir bereits so gut, dass wir sie mitsprechen konnten, wenn unsere Mutter sie sprach.

Holzlöffel von Beate Bisping

Wenn sie zu kochen begann, entspannte sie sich, heiter und gelassen erzählte sie dann von zuhause, von der großen Hotelküche im „Braunen Hirschen“, von den Gerüchen nach Zigarren und gutem Essen, von der Betriebsamkeit der Mutter, die die Hotelküche dirigierte und ihrer böhmischen Küche, von dem Stich Butter, den man aufs glühende Holz im Küchenofen gab, der den Geruch nach brauner Butter in der ganzen Küche verteilte und alle in der Küche aufs Kochen einstimmen sollte. Sie erzählte von den Festen im Saal und vom Vater am Zapfhahn unten im Restaurant, wo er seine Gäste bewirtete.

So sehe ich sie vor mir. Ich sehe sie mit dem kleinen Holzlöffel in einem kleinen Eisenpfännchen rühren. Gute Butter zerließ sie darin, fügte Mehl hinzu, ließ es aufkochen bis es sich unter Rühren mit dem Löffel zu einer wunderbar duftenden buttrigen Mehlschwitze verbunden hatte. Mit Routine ließ sie die Mischung in die große Kasserolle gleiten, um dem Inhalt eine sämige Konsistenz zu geben. Wenn sie dort stand, erzählte sie auch die anderen Geschichten und ihr Gesicht veränderte sich. Sie erzählte von den Kriegsjahren, von der Lebensmittelknappheit, beschrieb den desolaten Zustand der Menschen, vom zerbombten Münster, wo sie und unser Vater zunächst gelebt hatten. Sie erzählte von Freckenhorst, von ihrer ersten Wohnung überm Stall bei Niemerg an der Warendorfer Straße und den Praxisstunden, die mein Vater dort im Schankraum abhielt. Sie sprach über die vielen Flüchtlinge, die, wie sie selbst, hier eine neue Heimat gefunden hatten. Sie erzählte vom Schloss und von der Hilfe der Grafenfamilie, die Hilfe gab wo sie nur konnte, auch mit ihren Räumen. Sie erzählte von der Unternehmerfamilie Wolff- Kreimer, die mit Arbeit und Zuwendungen Not linderte, wo sie am Größten war, von ihrer stillen Sehnsucht nach ihrer protestantischen Kirche im tiefkatholischen Münsterland. Wir fühlten ihre brennende Sehnsucht nach ihrer Heimat, wir, ihre Freckenhorster katholischen Kinder.

Täglich Essen in ihrer Küche zubereiten zu können, immer wieder, nicht versiegend, hielten die Bilder der Erinnerung und ihre überstandene Not, beständig wach. Sie beschrieb die mit dem aller letzten Zug geglückte Flucht aus Schlesien vor den anrückenden russischen Truppen nach Görlitz, das noch friedlich dalag, von den Pferdetrecks, die nach und nach die Stadt fluteten, ein riesiges Chaos und Hektik verbreitend. Sie erzählte von einem Zug von Gefangenen, der sich durch die klirrend kalte Winternacht schleppte, auf dem Weg irgendwohin, von einer Herde Trakehner Pferde, die von Ostpreußen kommend, wohl ihre Rettung in den südlicher gelegenen Landstrichen suchte. Wir liebten die Geschichte ihrer Ankunft in Münster, nach einer vier Wochen dauernden Flucht in den Westen. Als die Türe des Waggons nach ihrer Ankunft in Münster aufgeschoben wurden, sah sie, dass die Stadt vollkommen in Trümmern lag. „Ich konnte vom Bahnhof bis zum Schloss gucken“. Tief erschöpft und verzweifelt setzte sie sich auf einen Stein vor dem kaputten Bahnhof und weinte hemmungslos. Da näherte sich ein Engel. Er war in Gestalt einer Frau in einer dunklen westfälischen Tracht. Ihre weißen Haare waren zu einem Kranz um den Kopf geflochten und sie trug einen Korb am Arm. „Wein ma` nich Mädken“, sagte sie und zog eine dicke Stulle hervor; heller Stuten, Butter, Käse und obendrauf Schwarzbrot. Meine Mutter sagte immer, sie habe beim Anblick des Brotes vermutet, das müsse wohl der „Westfälische Himmel“ sein, von dem sie gehört habe.

Geschichten vom flüchten müssen, von menschlichen Beziehungen in Sonderzeiten, von Entbehrungen, vom Mitleid und vom barmherzigen Handeln, vom „Stille halten“ vor dem Schicksal, wie sie sagte, begleiteten mich durch meine Kinderjahre.
Fällt mein Blick auf den Holzlöffel, erzählt er die Geschichten meiner Mutter in unserer Küche, damals in Freckenhorst, wo ich aufgewachsen bin.

Heute scheint sich ihre Geschichte zu wiederholen, kommt „in neuem Gewand daher“, gleicht denen, die ich ewig schon kenne. Es lässt einen fassungslos staunen: lernen wir so wenig aus dem, was dem Menschen widerfährt?


Annegret Kortmöller

Annegret Kortmöller

Dieser Löffel ist nicht auf der Flucht, sondern in einer neben unserem Haus in Beckum vorübergehend installierten Suppenküche benutzt worden.
Die Amerikaner hatten direkt nach dem Krieg, wegen der strategisch günstigen Lage, ein Wohnhaus besetzt und von dort auch ihre Leute in der Kommandozentrale mit Essen versorgt. Wir als Nachbarn bekamen manchmal von dem Essen etwas gereicht.
Für mich als Kind (6 Jahre) ein Highlight.

Unser „Nordenviertel““ in Beckum musste wegen Durchzug von russischen Soldaten innerhalb von 2 Stunden komplett geräumt werden. Nach ziemlichem Chaos – wo viel Hausrat von einem Haus zum Anderen getauscht wurde – und anschließender einwöchiger Sperrung wegen Seuchengefahr, konnten wir nach vier Wochen wieder in unsere Wohnung zurück.

Löffel von Annegret Kortmöller

Beim Aufräumen, Reinigen und Sortieren blieb der Löffel in unserem Haushalt liegen. Meine Mutter und Großmutter (der Vater war im Krieg) haben ihn dann hin und wieder beim Einwecken von Lebensmitteln benutzt, denn viele Haushaltsgeräte waren durch das vorherige Chaos nicht mehr in unserem Besitz.

Manchmal holte ich auch den Löffel zum normalen Vorlegen des Essens heraus, denn die Portionen waren größer!
Schon lange benutze ich den Löffel nicht mehr. Aber die Erinnerung an diese Nachkriegszeit ist mir wichtig.

Die abgenutzte Form sind nicht Spuren von unserem Gebrauch. Auch ist mir nicht klar, woher der Löffel stammt. Die Amerikaner werden ihn mit dem Hakenkreuz-Zeichen wohl nicht in ihrer Grundausstattung gehabt haben.


Mohammed Elsmadi

Mohammed Elsmadi

geboren in Syrien und nun im Asyl in Warendorf

Ich erinnere mich gerne an meine Studienzeit in Damaskus. Ich habe dort an der juristischen Fakultät studiert, an der wir unglaublich viel lernen mussten. Wir hatten eine Wohngemeinschaft von sechs Studenten auf dem Unigelände. Zwei Leute kamen aus Latakia – das liegt am Meer – zwei andere kamen aus der ländlichen Umgebung von Damaskus und mit mir noch ein weiterer aus Daraa, das liegt im Süden an der jordanischen Grenze. Die Leute vom Meer und von Damaskus tranken gerne Mate.

Wenn wir abends nach den Vorlesungen uns in der Wohnung trafen, haben wir immer erst Mate zubereitet und uns über den Tag unterhalten. Egal wie wir uns fühlten, ob wir Ärger hatten, Stress hatten oder unter großem Druck standen, dieses Abendritual mit Mate gemeinsam in der Wohnung, hat immer geholfen und war immer gut.

Löffel von Mohammed Elsmadi

An den Wochenenden trafen sich viele Studenten und Studentinnen im wunderschönen Garten der Universität von Damaskus. Neben Kaffee oder Cola gab es immer auch Mate Tee. Den neuen Löffel habe ich von einem Araber hier in Deutschland geschenkt bekommen und nun trinke ich auch hier Mate.

Mate-Tee wurde von Auswanderern, die in ihre Ursprungsheimat zurückwanderten, hauptsächlich in den Libanon und nach Syrien gebracht. In diesen Ländern trinkt man nun den Tee genauso traditionell wie in seiner südamerikanischen Heimat. Mit den syrischen Flüchtlingen kam die Kunst des Mate-Teetrinkens nun auch nach Deutschland und mit ihr die kunstvolle Bombilla. Die Bombilla besteht aus einem Saugrohr mit einem Löffelartigen Sieb an einem und mit einem Mundstück am anderen Ende. Das Glas wird an den Sitznachbarn weitergereicht, in dem die Mateblätter in lauwarmem Wasser quellen.


Rosemarie Külker

Rosemarie Külker

Mein Name ist Rosemarie. Ich wurde am 6.6.1943 in Gnesen, Posen, Westpreußen geboren. Mein Vater Eduard Höner war Gutsverwalter bei der Herrschaft von Sprenger. Sein Vater kam um 1905 aus Westfalen in diese Provinz mit seiner Frau, seinen ersten Kindern und siedelte hier auf 60 Morgen Land. Meine Mutter, in Militsch, Bezirk Breslau geboren und als Mütterschullehrerin tätig, heiratete meinen Vater am 6.12.1940. Ahnenpässe vorhanden!

Am 20.1.1945 ging meine Mutter mit mir auf die Flucht, zunächst mit dem Auto von Frau von Sprenger. Meine Mutter rettete in einer Aktentasche Papiere, einige Fotos, ein Handtuch mit ihrem Monogramm und einen kleinen 17 Zentimeter langen Löffel. Auf dem Stiel steht Krusus 90, der noch in meinem Besitz ist. Er hat die Kriegswirren, den Neuanfang in der ehemaligen DDR und die Übersiedlung in den Westen 1954 überstanden, mit ihm auch ich. Meine Mutter hat mir ihre Familiengeschichte und die der Höhner auf dünnen Schreibmaschinenseiten hinterlassen. Ich habe sie neu aufgeschrieben und sie durch die Familiengeschichte meines Mannes, ebenfalls Flüchtling aus Lugau, damals Brandenburg, heute Polen, ergänzt. Am 23.6. haben wir unsere Goldhochzeit gefeiert und kennen uns 60 Jahre.


Michael Schwartze

Löffel von Michael Schwartze

Der Materialwert ist eher gering, und auch optisch ist der Löffel mit sichtbaren Lötstellen und Spuren von robustem Umgang nicht gerade das, was man ein Schmuckstück nennt.
Vorsichtig nimmt Michael Schwartze den Löffel in die Hand, fast so, als könne er sich jeden Augenblick in Staub auflösen. Es ist die besondere Wertschätzung, die in dem behutsamen Umgang mit dem nur wenige Gramm schweren Stück Blech zum Ausdruck kommt. „Wahrscheinlich hat der Löffel während der Kriegsgefangenschaft meinem Vater das Leben gerettet“, sagt Schwartze nachdenklich und ruft das Wenige in Erinnerung, das sein am 24. Februar 2014 verstorbener Vater Theo Schwartze von den schweren Jahren in Russland einst berichtet hat. An der Ostfront sei sein Vater im Krieg gewesen und 1944 in Borissow bei Minsk in Gefangenschaft geraten. Zu essen habe es meist nur eine dünne Suppe gegeben, die sein Vater mit einer löchrigen Dose habe zu sich nehmen müssen. „Ein Mitgefangener meines

Löffel von Michael Schwartze

Vaters war in dem Arbeitslager in einer Werkstatt eingesetzt. Soweit ich das weiß, kam der aus Ahlen. Und der hat meinem Vater diesen Löffel gemacht, damit nichts von der kostbaren Nahrung mehr verschüttet wurde“, berichtet Schwartze. „In dem Moment ganz ohne Gegenleistung.“

Gemeinsam seien sein Vater, der zu dem Zeitpunkt nur noch 45 Kilo gewogen habe, und der freundliche Löffelmacher 1948 aus der Gefangenschaft zurückgekehrt. Beim Abschied auf heimischem Terrain habe der Mann aus Ahlen dann zu Theo Schwartze gesagt: „Du bist ein reicher Bäcker. Schenk’ mir doch bitte deine Schuhe.“ „Die hat mein Vater dann auch gerne abgegeben.“

Die Bäckerei Schwartze war ein alteingesessener Bäckereibetrieb an der Oststraße in Warendorf (später Bäckerei Löbke). Text: Die Glocke, Jürgen Edelkötter


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„WIR LÖFFELN GESCHICHTEN“